#Mehrfachzugehörigkeit

Mehrfachzugehörigkeit sagt aus, dass Menschen in ihrer Persönlichkeit aus unterschiedlichen Identitätsanteilen bestehen, die mit gesellschaftlichen Kategorien oder Merkmalen zu tun haben. Sie sind also mehrfachzugehörig, weil sie mit ihren Identitäts­anteilen vielfältigen gesellschaftlichen Gruppen angehören.

Mehrfachdiskriminierung ist dementsprechend in Verbindung mit den gesellschaftlichen Kategorien oder eben Merkmalen zu sehen, denn bei einer konkreten Diskriminierungs­situation sind in der Regel mehrere Identitätsanteile eines Menschen betroffen, die genau in einem spezifischen Kontext ihre Wirkmächtigkeit auslösen.

Zugänge zu Mehrfachzugehörigkeiten
Das Thema der Mehrfachzugehörigkeiten wurde schon Mitte des 19. Jahrhunderts von Sojourne Truth (afroamerikanische Feministin und Frauenrechtlerin) während des Kolonia­lismus thematisiert. In den 90er Jahren wurde mit der US-amerikanischen Rechts­wissen­schaftlerin Kimberlé W. Crenshaw (1989) der Begriff der Intersektionalität geprägt, der dies aufgreift und die verschiedenen sozialen Zugehörigkeiten auf einer Straßenkreuzung als Metapher darstellt. Damit ist die Aussage verbunden, dass z.B. eine muslimisch-weibliche, lesbische Person of Color aus einem marginalisiertem Stadtteil unterschiedliche Zugehörig­keits­merkmale aufweist, die in sozialen Kontexten (metaphorisch die Mitte der Straßen­kreuzung) spezifische Diskriminierungserfahrungen auslösen, die z.B. eine weiße katholische lesbische Frau aus demselben Stadtteil nicht erleben wird, jedoch sie aber andere Erfahrungen macht.

Entscheidende Impulse für die aktuelle fachliche Diskussion in Deutschland liefert u.a.  Paul Mecheril (2004), indem er sogenannte „hybride Formen“ von Zugehörigkeiten in Deutschland beschreibt. In seiner Veröffentlichung zur Kritik einer interkulturellen Pädagogik und der Entwicklung einer Migrationspädagogik geht es zunächst um die mehrfache Selbstverortung von People of Color in Deutschland mit ihren kulturellen Zugehörigkeiten. Ein Beispiel hierfür ist eine in Deutschland geborene Person, deren Eltern aus der Türkei im Zuge der Anwerbung von Gastarbeiter*innen zum Aufbau Deutschlands gekommen sind. Diese Person kann herkunfts- und lebensweltbezogene kulturelle Codes miteinander verbinden und damit neue kulturelle Räume schaffen. Voraussetzung dafür ist, dass gesellschaftlich die Offenheit existiert und diese Möglichkeiten der Zugehörigkeiten anerkannt sind. Andererseits geht es aus historischer Sicht um die Auswirkungen von Nationenbildungs­prozessen und die damit nach wie vor zusammenhängende Homogeni­sierung von Zugehörigkeiten aus weißer dominanzgesellschaftlicher Perspektive in der Gegen­wart, die an nationalistische und rassistische Konstrukte andocken.

In diesem Zusammenhang weist Mecheril darauf hin, dass Mehrfachzugehörigkeiten die Normalität darstellen, jedoch in Deutschland und im pädagogischen Diskurs nach wie vor Aufklärungs­arbeit zu leisten ist. In der Folgezeit kommt der Begriff über schwarze, feministische, queere, diversitätsorientierte und intersektionale Fachdebatten in den pädagogischen Diskurs und wird jenseits natio-ethno-kultureller Dynamiken mit verschie­densten sozialen Gruppenzugehörigkeiten verbunden und ist seitdem kaum noch weg­zu­denken.

Was bedeutet Mehrfachzugehörigkeit genau?
Mehrfachzugehörigkeit bezeichnet die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Vielzahl von verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten. So kann eine Person zum Beispiel Frau, lesbisch, Türkin, Muslima, Lehrerin, Akademikerin, Disabled Bodied sein oder ein bestimmtes Alter haben. Seit einigen Jahren wird der Einfluss und das Bewusstsein von Mehrfach­zugehörig­keiten zu unterschiedlichen sozialen, geschlechtlichen, ethnischen sowie kulturellen Gruppen als fruchtbare Ressource gesehen und bietet besonders Kindern und Jugendlichen ressourcen­orientierte Anknüpfungspunkte an. Der Begriff Mehrfachzugehörigkeit veranschaulicht die Vielfalt individueller Identitäten und grenzt sich von einseitigen Identitätskonzepten ab, die Menschen nur einer Zugehörigkeit zuordnen.

Was ist Mehrfachdiskriminierung?
Menschen werden häufig nicht nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer spezifischen gesellschaftlichen Gruppe diskriminiert, sondern sehen sich verschiedenen Formen von Diskrimi­nierungen ausgesetzt, wie Rassismus, Sexismus, Klassismus, Trans*-/ Queer­feindlich­keit etc, die interdependent zueinander in Machtsystemen stehen.

Diese spezifische Form der Diskriminierung – aufgrund der gleichzeitigen Wirkung von mehreren unterschiedlichen Merkmalen in einem bestimmten Kontext – wird Mehrfach­diskrimi­nierung genannt.

So kann eine Trans*Person nicht nur aufgrund der Geschlechtsidentität diskriminiert werden, sondern auch aufgrund des sozialen Status, der sexuellen Orientierung, des (zugesprochenen) Migrationshintergrundes oder körperlich/geistiger Beeinträchtigungen. Personen können also gleichzeitig und sich gegenseitig bedingend mehreren benachteiligten Gruppen angehören und dadurch verschiedenen Formen der Diskriminierung ausgesetzt sein.

Intersektionelle Diskriminierung
In der Literatur wird Mehrfachdiskriminierung unterschiedlich ausgelegt. Häufig wird dabei Mehrfachdiskriminierung als Intersektionalität definiert (s.o.).

Dieser Ansatz kann einer Lebensrealität gerecht werden, innerhalb derer mehrere Differenzlinien aufeinandertreffen. Diskriminierung intersektional zu denken heißt, dass jede*r mehrfache Zugehörigkeiten besitzt und in der Gesellschaft unterschiedliche soziale Rollen und Positionen einnimmt (abhängig von Alter, Religion, Ethnie, Geschlecht, Herkunft, Bildungsabschluss etc.). Dabei geht es auch um das Thema der privilegierten und de-privilegierten sozialen Positionen. Durch die Analyse der Positionen durchbricht das Konzept den Täter*innen-Opfer-Dualismus und öffnet Wege von Empowerment und Powersharing als Handlungsmöglichkeiten von Personen und Institutionen.

Zum Weiterlesen
Zu Sojourner Truth in: A. Kelly, Natasha (2019): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster. Unrastverlag.

Zu Kimberlé W. Crenshaw

Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz

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